Archiv für den Monat: Juni 2020

Der eigene Weg


Obwohl uns in den sozialen Medien Kalligraphie in einer verwirrenden Auswahl
und in unterschiedlichsten Ausprägungen begegnet (graphische Abstraktionen, perfekte Buchmalereien und historische Kopien, Pinselwürfe, malerische Interpretationen, Schriftcollagen und Schriftschichtungen, Textteppiche, Anverwandlungen von fremden Schriften und auch die Werkzeugauswahl scheint mittlerweile unbegrenzt…), suchen wir doch das „Uns-gemäße“, das Eigene und Persönliche.
Oft geht es neben der Entwicklung der handwerklichen Fähigkeiten um die persönliche Auseinandersetzung mit diesen Fragen. Wie entwickelt man eine eigene Sprache, einen eigenen Ausdruck und damit eine unverwechselbare „Handschrift“?
Kalligraphie-„Unterricht“ kann sich dem Namen nach natürlich viel leichter der handwerklichen Seite des Tuns widmen, denn wie will man individuellen Ausdruck „unterrichten“? Dennoch ist genau das ja das eigentliche Ziel der ganzen Übungen.
Vielleicht hilft es, wenn wir an dieser Stelle etwas ins Philosophische abschweifen. Erich Fromm hat ein berühmtes Buch mit dem Titel „Haben und Sein“ geschrieben. Er sagt:

Das höchste Ziel im Seinsmodus ist „tieferes Wissen“, im Habenmodus „mehr Wissen“.

Zwischen diesen beiden Polen bewegen wir uns beim künstlerischen Tun. Einerseits müssen wir bestimmte „Skills“ besitzen; wir müssen MEHR wissen, denn nur dann haben wir die nötige Vielfalt an Möglichkeiten, um überhaupt etwas auszudrücken zu können. Andererseits müssen wir uns auch eine gewisse Freiheit, einen „Anfängergeist“ bewahren, um etwas fließen zu lassen, das tiefer unter der Oberfläche der alltäglichen Wahrnehmung liegt.

Meister Eckhart hat seine Vorstellung vom Wissen oftmals ausgedrückt, beispielsweise wenn er sagt, daß Wissen kein bestimmter Gedanke sei, sondern alle Hüllen abwerfe ohne Interesse und nackt zu Gott laufe, bis es ihn berühre und erfasse.

Die greifbare, sinnliche und die geistige Welt berühren sich in der Kunst. Es ist ein Weg, der im Grunde kein physischer ist; er ist etwas, was man letztlich nur alleine empfinden und gehen kann, und das steht scheinbar im großen Kontrast zu den Erwartungen des modernen Lebens. So verstanden zeigt ein künstlerisches Werk das Physische, ist aber nicht aus ihm entstanden…
Auf einem Blatt Papier kann jeder sein ganz eigenes Universum entfalten. Deshalb zum Schluss noch eines der wundersamen Gedichte von William Blake, einem Dichter, Maler und Mystiker aus dem 19. Jhdt., der bis heute in keine der üblichen Kategorien passt:

Die Welt in einem Sandkorn sehen,
Und den Himmel in einer wilden Blume,
Die Unendlichkeit in der Hand halten,
Und die Ewigkeit in einer Stunde.