Copperplate oder : Nachtgedanken

F508E813-8A55-49A7-9C06-0B027C4321C1Wieso habe ich eigentlich noch nie über die englische Schreibschrift geschrieben, wo sie doch in meinen Kursen ein häufiges Thema ist? Schießt es mir mitten in der Nacht durch den Kopf. Aber besser spät als nie…. also mache ich mir sofort ein paar Notizen.
Die folgenden Gedanken sollen jedoch keineswegs abschließend sein, noch weniger sind sie allgemeingültig zu verstehen.

Das Augenfälligste zuerst: wir benutzen, anders als bei fast allen anderen Schriften der Historie, die Spitzfeder! (Anfangs den zugespitzten Gänsekiel, der um so mehr zum Verschleißen neigte). Durch die sehr schlanken Formen und zum Teil nur haardünnen Linien steht ihr der pure Schwarz-weiß Kontrast besser als farbige Experimente. Man braucht relativ glattes, fusselfreies, hochwertiges Papier und vor allem viel Geduld beim Einüben dieser fragilen Formen, die scheinbar nur zwei Extreme zu kennen scheint, entweder ist sie überaus elegant oder ziemlich misslungen.
Natürlich gibt es unzählige Schnörkel (von denen man viele überhaupt nicht braucht, denn wahre Eleganz und ein Übermaß an Schnörkeln schließen einander stets aus), dennoch ist sie eine Schrift, die sich schwerer als andere individuell interpretieren lässt, das macht sie für moderne, experimentelle Schriftbilder geradezu unbrauchbar. Entweder man beugt sich ihren Regeln oder es mangelt ihr eben an der angestrebten Eleganz. Sie verzeiht weder eine schlechte Tagesform, noch eine lange Schreibabstinenz.

Das wichtigste, eigentümlichste und damit charakteristischste ist jedoch, dass der Schreiber die Modulation der Strichstärke mit unterschiedlichem Druck auf die Feder erreicht. Das ist in der abendländischen Geschichte ein Einzelfall (außer bei der dt. Kurrent, die aber eine direkte Nachfahrin der Copperplate ist).
Üblicherweise entsteht der Strichwechsel durch die breite Form der Feder, den „Wechselzug“, hier aber durch leichtes Wippen, durch Druck und Loslassen, „Druck und Flug“, wie man es auch nennt. Das bedeutet, dass man während des Schreibens nicht nur die Linien und die sie umgebende Flächen im Auge behalten muss, sondern dass die Hand die Feder mal tief und fest übers Papier schieben muss, um sie dann federleicht in die Aufwärtsbewegungen schweben zu lassen. Das ist ein fast tänzerisch anmutender Bewegungsablauf, und genau diese Sinnlichkeit ist all diese Mühe wert!
Alles in allem: sie ist die Diva unter den Schriften!

Dabei ist ihre Geschichte nicht sehr alt, sie entstand erst im ausgehenden Barock, zwischen altem Adel und neuen humanistischen Ideen, zwischen erstarktem Bürgertum und höfischer Etikette. Sie wurde in „Schreibschulen“, in kleinen Heftchen mit illustrierten Anleitungen europaweit unterrichtet. „Jedermann“ konnte sie lernen, eine mehr oder weniger verbundene Schrift, die kursiv relativ zügig zu schreiben war.

Es gibt schrecklich verkitschte Beispiele und unglaublich erhaben wirkende Schriftblätter, die jeden Schriftinteressierten sofort bezaubern.
Es gibt sie von Hand geschrieben, und, wie der Name schon sagt, in Kupfer gestochen. Und vielleicht ist das genau ihr Problem… diese Perfektion, die mit HANDschrift eigentlich nichts mehr gemein hat, erstickt gewissermaßen die eigentliche Schönheit, indem sie sie auf die Spitze treibt. Seit der Erfindung des Kupferdrucks bemüht sich jeder Schreiber nun um genau diese technische Präzision, die aber den ursprünglich betont handschriftlichen Charme und Charakter verloren hat.
Es geht also auch um Geschmack, um eine harmonische und vor allem ästhetische Lösung der Gegensätze. Die Schrift sollte formal richtig und mit sicherer Hand geschrieben sein, dabei doch leichtfüßig und fast absichtslos daherkommend.
Nicht unzeitgemäß kitschig, doch aber mit diesen großzügigen Schwüngen, die so einnehmend fürs Auge sind. Wie aber lernt man Geschmack? Hierzu ein Auszug aus einem Gespräch Goethes mit Eckermann:

„Wir öffneten darauf die Mappen und schritten zur Betrachtung der Kupfer und Zeichnungen. Goethe verfährt hiebei in bezug auf mich sehr sorgfältig, und ich fühle, daß es seine Absicht ist, mich in der Kunstbetrachtung auf eine höhere Stufe der Einsicht zu bringen. Nur das in seiner Art durchaus Vollendete zeigt er mir und macht mir des Künstlers Intention und Verdienst deutlich, damit ich erreichen möge, die Gedanken der Besten nachzudenken und den Besten gleich zu empfinden. »Dadurch«, sagte er heute, »bildet sich das, was wir Geschmack nennen. Denn den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten. Ich zeige Ihnen daher nur das Beste; und wenn Sie sich darin befestigen, so haben Sie einen Maßstab für das übrige, das Sie nicht überschätzen, aber doch schätzen werden. Und ich zeige Ihnen das Beste in jeder Gattung, damit Sie sehen, daß keine Gattung gering zu achten, sondern daß jede erfreulich ist, sobald ein großes Talent darin den Gipfel erreichte. Dieses Bild eines französischen Künstlers z. B. ist galant wie kein anderes und daher ein Musterstück seiner Art.“


Mir gefällt besonders der letzte Satz „ein Musterstück/ Meisterstück seiner Art“.
Denn es gibt ihn wohl nicht, DEN Geschmack oder das einzig Wahre, sondern wir müssen alles immer in seiner eigenen Art, im eigenen Genre, messen. Man kommt (von persönlichen Vorlieben abgesehen) erst dann zu einer gewissen Geschmacksbildung, wenn man im Gesamten die Vielfalt der Gattungen wahrnimmt und in den einzelnen Gattungen die Feinheiten erkennt.
Für die Copperplate müssen wir unser ungeduldiges Ego soweit zurücknehmen, dass wir ihr nicht sofort in jeder Linie die spontane Eigenart aufzuzwingen versuchen, sondern durch konzentriertes Einüben der Formen dem Weg bis zur handwerklichen Meisterschaft einfach folgen. Das bedeutet, dass wir uns in unserer schnelllebigen Zeit den Raum geben müssen, unser Sehen neu zu schulen, in Minimalentdeckungen eine Entwicklung zu sehen und kleine Fortschritte auch als solche wahrzunehmen. Das kann manchmal mühsam, manchmal meditativ sein. Aber der Weg ist bekanntlich das Ziel…