Dichter der Linien

Wie beschreibt man die Linien der Seele?
Wie kann man geschriebene WORTE fühlen?
Wie wird ein Wort Ausdruck der Seele?

Unsere Buchstaben bestehen nur aus Kreis und Strich –
aus 26 Kombinations-und Variationsmöglichkeiten von Kreis und Strich.

Wie verhält sich unsere Schrift zur Spiritualität, zum geistigen,
zum inneren Ausdruck? Ist unsere Schrift überhaupt dafür geeignet?
Ist das abendländische Gemälde oder Musik nicht viel besser dafür
geeignet? Oder ist Kalligraphie vielleicht doch weit mehr als nur
ein Gedankenarchiv?

Arabische Kalligraphien sind Gottes Wort und Wille,
asiatische Kalligraphien sind Wesen, eigene Charaktere.
Der Schreiber zeigt mit seiner Hand, seinem Sein und Atem,
mit jedem Zug sein Wesen…
Unsere abendländische Kalligraphie hat all dies nicht, sie ähnelt
ihrem Wesen nach mehr der Typographie als der Handschrift.

Was unterscheidet eigentlich getippte Schrift von Handschrift?
Ist es wirklich ein anderes Tun, oder nur ein anderes Werkzeug?
Fühlt der, der mit der Hand schreibt anders als der, der mit
dem Computer schreibt? Ich bin mir nicht sicher.
Zu sehr „denke“ ich meinen Text als dass ich ihn fühle…
Das befriedigende Gefühl etwas mit den eigenen Händen zu
schaffen, das ist allerdings immer etwas besonderes!
Je weniger Werkzeuge man braucht, desto besser.
Man kann einen Hefeteig kneten, einen Salat mischen,
in der Erde wühlen, um Blumenzwiebeln einzupflanzen,
ein Instrument mit den Händen spielen, mit Nadel und Faden
Gewänder herstellen und natürlich schreiben,
mit den Fingern in Sand, mit Hammer und Meißel in Stein
und eben mit Pinsel, Feder, Stift oder Tastatur.
Egal womit, aber wir wollen uns ausdrücken!

In der Schriftgeschichte gab es immer den jeweiligen Zeitgeist
und entsprechende Entwicklungen aus historischem Kontext heraus.
Die dunkle, steil aufragende Textura der gotischen Zeit hat einen
ganz anderen zeitgebundenen Ausdruck als eine barocke Fraktur.
Eine frühchristliche Unziale ist wieder anders als eine
römische Capitalis…
Aber der Versuch, die eigene, unverwechselbare Geste in Schrift
zu bannen, fühlbar zu machen ist eine neue Aufgabe, die es
bisher so nicht gab.
Vielleicht könnte man sie auf Papier manifestieren und sie zB.
mit sensiblen Pinselschwüngen sichtbar machen.
Man „fühlt“ den Strich, der Strich hat eine eigene Qualität,
aber fühlt man auch den geistigen Inhalt des Wortes? Oder
„fühlt“ man den Strich und „versteht“ parallel dazu das Wort?
Wenn man nun nur bei dieser Geste bleibt, die im klassischen
Sinne nicht lesbar, dafür intuitiv und sinnlich wahrnehmbar ist,
(dennoch kann man sie nicht ertasten, weil sie ja nicht reliefartig ist), erkennt das Auge den Charakter der sensiblen Geste und suggeriert
taktiles Empfinden…

Man könnte natürlich einen Text mit Farbe und Malerei näher
„erklären“, wie man es schon in mittelalterlichen Buchmalereien
gemacht hat. Eigentlich funktioniert auch ein Comic auf ähnliche Weise.

Schrift bekommt durch ungewöhnliche Medien, Materialien und
Werkzeuge einen völlig unerwarteten Effekt und eine neue,
persönliche Bedeutung.
Tattoos, Schrift auf Körper, haben vielleicht diese Intension oder Schrift
auf beweglichen Trägern wie U-Bahnen, Schrift in Landschaft, auf Mauern, Brücken…Schrift, die nur aus Licht besteht, wie zB Jenny Holzer sie
aufs Meer oder an Fassaden werfen lässt. Die poetische „Kritzelschrift“,
die Cy Twombly auf seinen Bildern palimpsestartig und spontan verwendet.

Mir gefällt die Idee der neuen „Gedankenträger“, vielleicht auch
weil ich eben Kind meines Zeitgeistes bin. Ich liebe den
Überraschungsmoment, wenn Schrift irgendwo einfach auftaucht,
befreit aus Büchern!
Denn im Raum schwebende Schrift fühlt sich einfach ganz anders an
als gedruckte, in Stein gemeißelte anders als Schrift auf Holz.
Schrift auf Glas ist anders als Buchstaben, die dreidimensional sind.
Ein langes Schriftband anders als ein quadratisches Layout.
Goldene Lettern tragen eine andere Botschaft als schnell
skizzierte Bleistiftkritzeleien….
SCHRIFT IST SO VIELFÄLTIG WIE UNSERE WELT!